Der Pauker
Auf der Hinfahrt zum musikalischen Weihnachtsgottesdienst in einem Flecken der Nordheide, den wir hier rücksichtsvoll nicht nennen, passierte dies: Einem Mitglied des anreisenden Orchesters wurde das Auto gestohlen. Das Auto gehörte dem Pauker des Orchesters, das Teil 1 des Bach'schen Weihnachtsoratoriums aufführen sollte. Dramatisch war nicht der Diebstahl des Autos, sondern die in seinem Fond als Riesen-Wertsache mitreisende Pauke. Denn was ist schon das Jauchzet frohlocket" des Eingangschores ohne die Pauke, die selbst heutigen Heiden das Heilige am Weihnachtsfest herbeizudonnern imstande ist? Analysieren wir einmal: Die kriminelle Energie des Diebes galt mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht dem gewöhnlichen Massendiebstahlsobjekt Auto (in diesem Fall ein Kleinkombi, uralt, ohne Katalysator, TÜV in 1 Monat) sondern der Pauke. Eine Pauke übt auf den Hörer nicht erst durch ihre Töne, sondern schon durch ihren corpus enorme Reize aus, die die Musikpsychologie als ,,Hoch-Appell-Werte" bezeichnet. Vom Randgruppen-Jugendlichen mit Aggressionsstau bis zum ergrauenden Mathe-Oberstudienrat, der sich endlich emotionale Lebensträume gönnen will-sie kommen alle für diesen Diebstahl in Betracht. Auch biochemisch reine Frauengruppen, bekannt für ihre women-power, könnten die Karre aufgebrochen und kurzgeschlossen haben, um mit der Pauke zu fliehen. Denn die Pauke stellt eine ideale Paarung von männlicher und weiblicher Symbolik dar. Da sind die Schlegel (für Ahnungslose: Die Dinger, mit denen man die Pauke schlägt, damit sie tönt bis hin zur Übertönung eines Donnerwetters) einerseits. Und andererseits die Form, das Gefäß der Pauke, die wie alle Gefäße an archaische Weiblichkeit erinnert. Alle, die unter die Einsamen" bei dem hohen Fest fallen und derer in allen Weihnachts- und Silvesterpredigten und Depressions-Statistiken gedacht wird, könnten mit diesem mehrgeschlechtlichen und daher mehrfunktionalen Instrument geklaut haben, was sie so nötig brauchen. Egal wer es war, ob Männer (mehrheitlich Diebe stellend) oder Frauen (mehrheitlich wieder auf der Suche nach echt Männlichem) - sicher ist, dass es kein gewöhnlicher Diebstahl ist. Denn verkäuflich ist so ein Riesending mit Herstellungsnummer eines exklusiven Instrumentenbauers (entspricht der Fahrgestellnummer eines Autos, nur unvergleichlich exklusiver) überhaupt nicht. Gestohlene Pauken gibt es nicht als heiße Ware, die gehehlt werden kann. Sicher ist auch, dass der „appellative Reizwert" einer Pauke jetzt irgendwo irgendwen über die Festtage erfreut und weit in die Zukunft hinein ermutigend trägt. Dies wünsche ich Ihnen: Dass Sie ohne kriminelle Energie freisetzen zu müssen sich Heiligabend und am Christfest erfreuten. Und auf Silvester und 2005 auch, ohne die zweifelsohne seelisch und vegetativ stärkenden Töne einer Pauke zugehen können. Zumal der, der sie klaute, sich nur heimlich an ihnen freuen kann wie jene Kunstklauer, die einsam in ihrem Keller vor einem Meisterwerk hocken und nur noch einsamer werden. In jenem Nordheide-Örtchen behalf man sich - jedenfalls noch während der Probe - mit dem Kontrabass. Dessen altehrwürdiger Musiker zupfte die entscheidenden 14 Töne (genauer: 2 Töne, die 14 Mal die Seele hüpfen lassen) auf seinem Bass, was die Finger und die Saite hergaben. Deswegen kippte er dann verständlicherweise ermüdet in der Aufführung von seinem hohen Barhocker. Und auch das wünsche ich Ihnen: Dass es bei harmlosen Schrecken in 2005 bleibt - ohne ernste Folgen.
28. Dezember 2004